Februar 2010 Umweltbrief.org Qualitatives Wachstum: Besser statt mehr ________________________________________ Entstehen, reifen, vergehen. Wachstum in der Natur hat Anfang und Ende. Für uns Menschen soll dieser Kreislauf nicht gelten. Unsere Volkswirtschaft soll immer nur wachsen. Eine Welt, eine Ökonomie ohne Wachstum können und wollen sich die allermeisten nicht vorstellen. Das Wachstum der Wirtschaft, so die Grundüberzeugung, also die Produktion und der Verkauf von immer mehr Gütern und Dienstleistungen, sei die Basis allen Wohlstands. Um die Krise zu bewältigen setzt die Bundesregierung daher mit dem "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" voll und ganz auf dieses eine Pferd. Und niemand, weder Opposition noch Gewerkschaften, hinterfragt dieses Ziel - in Zeiten, da viele Menschen ohne Arbeit und ausreichendes Einkommen dastehen. In den letzten 15 Jahren ist die Wirtschaft in Deutschland um 20% gewachsen. Die Arbeitslosigkeit stieg aber um 56%. Professor Meinhard Miegel, Vorsitzender der Stiftung Denkwerk Zukunft und CDU-Mitglied, hält es für eine "Art Ersatzreligion", dass wir uns so stark auf materiellen Wohlstand und Wachstum konzentrieren. "Mittlerweile haben wir einen materiellen Lebensstandard erreicht, der soviel höher ist als der Lebensstandard der übrigen Menschheit, dass es nicht mehr sinnvoll sein kann, weiter in diese Richtung zu marschieren. Und abgesehen davon ist es gar nicht mehr möglich, diese Art von materiellem Wachstum immer weiter zu treiben. Die natürlichen Ressourcen fallen aus. Die Energie fällt aus. Die Umweltbelastung nimmt zu. Wir müssen also Abschied nehmen von dem ursprünglich mal sinnvollen, aber mittlerweile überholten Konzept." Miegel geht sogar noch einen Schritt weiter und meint, dass wir keine Zeit mehr hätten, uns um Kinder, Alte, Kranke, Nachbarn und Freunde zu kümmern, weil wir nur noch mit Geldverdienen beschäftigt seien. Was ist die eigentliche Ursache für diese unglaubliche Fehlentwicklung? Wenn alle Menschen auf der Erde so leben würden wie die Deutschen, bräuchten wir die Ressourcen von drei Planeten. Wachstum bedeutet Selbstzerstörung. Die gesamtwirtschaftliche Energieeffizienz der Industrieländer stieg in den vergangenen Jahrzehnten jährlich um knapp über ein Prozent, was durch stärkeres Wirtschaftswachstum bei weitem überkompensiert wurde: Der Energieverbrauch stieg immer weiter an. Der Klimagipfel von Kopenhagen war auch deswegen ein Flop, weil keine Regierung auf eigene Wachstumschancen verzichten wollte. Und wohl auch, weil Investitionen in die Zukunft in den Köpfen der Verantwortlichen noch immer bedeutet: mehr Waren, mehr Dienstleistungen, mehr Konsum. Wachstum als Fetisch. Die politischen und ökonomischen Eliten sehen ihr Heil nach wie vor in der Erzeugung von Wachstum - dabei ist keineswegs sicher, ob die Fortschritte der letzten 50 Jahre auf Wachstum oder nicht eher auf Bildung, Gesundheit und Kommunikation zurückgehen. Sie haben gar nicht begriffen, was heute Not tut, sondern sie versuchen mit ganz alten Instrumenten neue Herausforderungen zu bewältigen. Und das kann nicht funktionieren. Wahnsinn war für Albert Einstein die Dummheit, immer das Gleiche zu tun, aber andere Ergebnisse zu erwarten. Der Soziologe Prof. Atilio Boron meint: "Das Hauptproblem wurde durch ein vollkommen irrationales und räuberisches Konsummuster verursacht: Dieses Muster ist dem kapitalistischen System jedoch inhärent. Es ist der Ausdruck eines genauso irrationalen und räuberischen Produktionsmodus. Es zu ändern, setzt voraus, den Kapitalismus aufzugeben und ein höheres ethisches, soziales und ökonomisches System zu konstruieren, was aber in den Köpfen der Leader der entwickelten Länder nicht im Entferntesten reinpasst. Solange das ökonomisch-soziale System Männer, Frauen und die Natur nur als simple Objekte der ständigen Gewinnmaximierung betrachtet, kann es keine Lösung geben. Diese historisch-ökologische Krise führt unseren Planeten in den kollektiven Selbstmord. Ein solches System ist nicht lebensfähig. Seine Aufgabe zugunsten eines humaneren Systems ist nur eine Frage der Zeit. Man muss den Konsum und die Verschwendung des Nordens sofort einschränken." Der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos wünscht sich, dass das "Gute Leben" einmal den westlich geprägten Entwicklungsbegriff ablösen möge. Der Finanzkapitalismus erzeugt ökologische und soziale Folgeschäden. Milliardenprofite wurden immer weniger im Betrieb angelegt und immer mehr an den Kapitalmärkten, und die waren der Wachstumsmotor der vergangenen Jahre. Bis der Kollaps kam. Die Jagd nach maßlosen Boni, unbegrenztem Wachstum und allein wirtschaftlichem Erfolg ohne Rücksicht auf Konsequenzen wird jedoch ungehindert fortgesetzt. Die Unruhe in der Gesellschaft wächst. Wenn wir weiterhin dem Spiel der freien Märkte in einem korrupten Wirtschaftssystem freien Lauf lassen, ist der nächste Kollaps vorprogrammiert. Unsere Volkswirtschaften müssen so lange weiter wachsen, wie die Geldvermögen zinsbedingt automatisch schneller zunehmen als die Wirtschaftsleistung - und das tun sie seit Jahrzehnten sogar exponentiell. Im Gleichschritt mit den Geldvermögen nehmen aber auch die Schulden überproportional zu und damit wiederum die Zinsströme. Diese aber schlagen, netto gerechnet, bei neun Zehnteln der Haushalte negativ zu Buche und konzentrieren sich, als gleich hohe Gewinne, bei dem restlichen Zehntel, das inzwischen bereits über 61% aller Vermögen verfügt. Die daraus resultierende und sich weiter öffnende Armut-Reichtums-Schere und damit der soziale Kollaps können nur durch Wirtschaftswachstum etwas gemildert werden, was jedoch angesichts der Umweltfolgen immer weniger möglich ist. Die Politik steckt also in einer Zwickmühle: Entweder mit Wirtschaftswachstum in den ökoloischen oder ohne Wirtschaftswachstum in den sozialen Kollaps. Das heißt, die Überlegenheit des Geldes gegenüber den Gütern muss abgebaut bzw. neutralisiert werden, wenn wir den Zwang zum Wirtschaftswachstum überwinden wollen. Langfristiges Denken ist da gefragt. Kapital, das der Gesellschaft dient, nicht umgekehrt. Zudem die Mitbestimmung der Zivilgesellschaft in Unternehmen und die Entwicklung eines branchenspezifisch verpflichtenden Wertekodex, orientiert an den Zielen der Nachhaltigkeit und der sozialen Verantwortung. Nur wer anders denkt, kann anders wirtschaften. Nachhaltiges Wachstum braucht Vielfalt und Recht. Vereinfachende Klimalösungen sind kontraproduktiv, so Christine von Weizsäcker. Die derzeit verbreitete Vorstellung eines Wachstums, das sich auf wirtschaftliche Prosperität beschränkt, ist stark vereinfachend und gleicht einer Massenhysterie. Nachhaltig wird Wachstum erst, wenn es Vielfalt, Dialog und Gerechtigkeit berücksichtigt. Gerade jetzt – angesichts der aktuellen Krise und der intensiven Bemühungen für ein Wirtschaftswachstum – muss mehr denn je die Frage danach gestellt werden, welches Wachstum wir für die Zukunft wollen und welche Ziele damit verfolgt werden sollen. Das Projekt „Wachstum im Wandel" beabsichtigt, möglichst viele Institutionen und Personen in einen Dialog darüber zu involvieren, wie wir diesen Wandlungsprozess in Richtung Zukunftsfähigkeit gestalten können. Gerade in Zeiten großer Unsicherheit halten wir uns an Dinge, die uns vertraut sind. Wir müssen aber dahin kommen, dass wir gemeinsam versuchen, etwas zu ändern. Wenn nur ich mein Leben so umstellen würde, dass mein Ökologischer Fußabdruck perfekt wäre, hätte das allein noch keine große Wirkung. Qualitatives Wachstum Machen Geld, Leistung und eigenes Haus glücklich? Müssen wir Wohlstand künftig anders messen? Prof. Tim Jackson, Regierungsberater Nachhaltige Entwicklung, University of Surrey: "Das Bruttoinlandsprodukt misst letztlich nur die Betriebsamkeit der Wirtschaft und nicht, inwieweit die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen befriedigt werden, oder wie gerecht Waren und Dienstleistungen verteilt sind. Eigentlich müsste man anders rechnen. Man müsste überlegen, was Wohlstand genau heißt, wer und unter welchen Voraussetzungen daran teilhaben kann. Andere Indikatoren wie Bildungschancen, Gesundheitsniveau der Bevölkerung müssten mit einbezogen werden, und auch Zufriedenheit und Wohlergehen. Dazu gehören auch die Verteilung der Einkommen und der Verbrauch von ökologischen Ressourcen. Eine akzeptable Lösung: alle arbeiten weniger, was ja vorteilhaft wäre für unsere Lebensqualität. Allerdings müsste dann die vorhandene Arbeit gleichmäßig verteilt werden. Das wäre Grundstein einer neuen Beschäftigungspolitik." Weil das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nichts über die Zufriedenheit der Menschen aussagt, bemühen sich in jüngster Zeit viele Initiativen darum, den BIP-Indikator um die Lebenszufriedenheit zu erweitern. Kurz vor Weihnachten hat auch die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), ein wirtschaftsliberaler Lobbyverband, ein "Glücks-BIP" vorgelegt. Die Universität Münster führte die Studie für die INSM durch. Die Zufriedenheit der Bevölkerung in Deutschland ist demnach seit Anfang der 1990er Jahre nicht mehr gewachsen. Man müsse daher andere Faktoren in die Berechnung des BIP einbeziehen: Glücksrelevant seien etwa Arbeitsplatzsicherheit, Einkommensverteilung, Gesundheit oder Familienstatus. Äußerst flexible Arbeitszeitkonten bedeuten für die Mitarbeiter mehr Freiheit, mehr Lebensqualität. Sie arbeiten motiviert und effizient. Auch so bringt gleicher Umsatz dennoch mehr Gewinn und den Mitarbeitern sogar steigende Löhne. Andere Versuche, die Zufriedenheit der Menschen mittels ökonomischer Indikatoren zu erfassen, kommen zu deutlich anderen Ergebnissen. So gilt etwa beim Happy Planet Index Costa Rica als glücklichstes Land der Welt - unter anderem, weil die Qualität der Natur eingerechnet wurde. Von den Industriestaaten kommt dagegen keines unter die Top Ten. In einem weiteren Projekt im Auftrag der französischen Regierung fordern die beiden Nobelpreisträger für Ökonomie Joseph Stiglitz und Amartya Sen, das BIP als Indikator vollständig abzuschaffen. Stattdessen seien viel bessere Messmethoden und Statistiken zu entwickeln, die auch soziale und ökologische Kriterien einbeziehen müssten. Dazu gehörten etwa auch Kinderbetreuung oder Beteiligung am politischen Leben. Am weitesten gingen Staaten wie das Königreich Bhutan und zuletzt Ecuador und Bolivien, die ein "gutes Leben" ihrer BürgerInnen in der Verfassung festgeschrieben haben. Bruttonationalglück als Maxime: In Bhuthan ist das allgemeine Glück der Untertanen - und das ist weltweit einzigartig - seit über drei Jahrzehnten ganz offiziell höchstes Ziel der königlichen Regentschaft von Bhutan. Dort hat Glück nichts mit Geld, Wohlstand, materiellem Zugewinn zu tun. Im Buddhismus wird Glück als Zustand innerer Ausgeglichenheit definiert. 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